Die Tricks der Fakire

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Sie gehören einfach zum Klischee des geheimnisvollen Indiens - die Fakire. Sie sind faszinierende, exotische Gestalten, die die mystische Kultur des alten Indiens hervorbrachte, halb Gaukler, halb Heilige - jedenfalls für romantische Schwärmer und Esoteriker. Für die meisten „Westler" gehören Fakire auf ihren Nagelbrettern eher in den Bereich der Karikatur als den der Esoterik. Für andere wiederum gelten Fakire als Betrüger und Bauernfänger - oder immer noch als typischer Ausdruck des Aberglaubens der ungebildeten breiten Masse eines Entwicklungslandes.

Was ist eigentlich ein Fakir? Das Wort stammt aus dem Arabischen. „Faqir" bedeutet der „Bescheidene" und bezeichnete ursprünglich einen Sufi, einen islamischen Mystiker. Arabische Reisende übertrugen den Begriff auf indische Bettelmönche und Wanderprediger, vor allem aber auf die Yogis , die außergewöhnliche Körperkontrolle demonstrierten.
Heute bezeichnet man vor allem die „Wundertäter", die auf indischen Volksfesten und Märkten auftreten, als „Fakire".

Europäische Reisende zeigten - und zeigen - sich weniger durch die von diesen Fakiren geleisteten „ambulanten Priesterdienste", ihre meist echte Frömmigkeit, die oft von ihren praktizierte traditionellen Volksmedizin oder ihre Wahrsagerei und Lebenshilfe, als von ihren „Wunder" beeindruckt.
Sind diese „Wunder" schlicht „fauler Zauber", sind sie bloß Ausdruck religiöser Hysterie - oder haben diese „Jahrmarktsheiligen" wirklich paranormale Fähigkeiten? Sehen wir uns ein paar ihrer Kunststücke an.

1. Wunder, die keine sind

Einige der von Fakiren praktizierten „Wunder" sind weder Tricks noch paranormale Phänomene - sie entstehen nur in den Augen der (ahnungslosen) Betrachter.

Das Nagelbrett
Zu den klassischen „Accessoires" der Fakire gehört das Nagelbrett. Reisende des 19. Jahrhunderts zeigten sich noch von den auf mit spitzen Nägeln bestückten Brettern sitzenden, liegenden, Handstand machenden Fakiren beeindruckt, heute „zieht" diese Nummer selbst bei Touristenshows nicht mehr. Es hat sich nämlich herumgesprochen, daß sich das Körpergewicht gleichmäßig über die Nägel verteilt und die Haut des Fakirs nur leicht eingedrückt wird. Gefährlich wird es erst, wenn das Körpergewicht auf weniger als zehn oder zwölf Nägeln ruht.

Fauler Zauber? Eher die Fehleinschätzung des fremden Betrachters! Der Fakir demonstriert nämlich kein „Wunder", sondern er zeigt ein artistisches Kunststück . Das Prinzip ist klar - trotzdem würde ich niemandem raten, sich ohne eingehende Vorbereitung und viel Übung einfach auf ein Nagelbrett zu legen und einen Zuschauer auf den Bauch springen zu lassen. Man muß nicht nur wissen, wie man so liegt, daß sich das zusätzliche Gewicht gleichmäßig auf die Nägel verteilt, sondern muß auch über eine perfekte Kontrolle der Muskelanspannung und nicht zuletzt über viel Mut verfügen. Erst recht gilt das für Vorstellungen, bei denen der Fakir sich zwischen zwei Nagelbretter legt, auf denen sich dann eine ganze Menschenpyramide aufbaut oder auf die sich ein ausgewachsener Elefant stellt. Diese Kunststücke entsprechen denen von Feuerspuckern oder Jongleuren - und genau so werden sie auch von den Einheimischen gesehen.

Der Gang über glühende Kohlen
Der „Feuerlauf" gehört auch heute noch zu den beliebtesten Attraktionen. Eine gut drei Meter lange Grube wird mit glühender Holzkohle gefüllt. Die Kohlen sind bis zu 800° C heiß - so heiß, daß eine Eisenstange schon nach kurzen Zeit rot glühen wird und ein nur in die Nähe gehaltenes Stück Papier sofort in Flammen aufgeht. Der Fakir schreitet barfuß über diesen glühenden Weg, ruhig, als ob er über eine kühlen Rasen gehen würde. Er verbrennt sich nicht im geringsten.

Viele abendländische Beobachter vertraten die Theorie, daß die Fußsohlen der Feuerläufer von einer so dicken Hornhaut bedeckt seien, daß sie von der Glut nicht viel spüren würden. Andere glaubten an eine besondere Schmerzunempfindlichkeit, eine Art örtliche Betäubung.
Beide Theorien wurden schon vor langem vom einen englischen Journalisten spektakulär widerlegt: Er warf einem Feuertänzer direkt nach der Vorstellung heimtückisch einen glühenden Zigarrenstumpen vor die Füße. Der Feuertänzer trat darauf - und schrie laut vor Schmerzen auf.

Ist der Feuerlauf also ein Wunder, das nur in einem veränderten Bewußtseinszustand möglich ist? Durchaus nicht! Das meiste ist simple Physik : Die Füße müssen trocken sein, damit kein Glutstückchen kleben bleibt. Der Feuerläufer darf auf keinen Fall länger als eine Viertelsekunde mit der Glut in Berührung kommen. Nur dann kann die Fußsohle einen Teil der Hitze absorbieren und zwischen dem ersten und zweiten Auftreten wieder etwas abkühlen. Aus diesem Grunde darf die Feuerstrecke auch nicht beliebig lang sein - „Gelegenheitsläufern" sollten nicht häufiger als zweimal mit jedem Fuß auf die Glut treten. 

Es geht also mit „rechten Dingen" zu. Trotzdem ist der Hinweis auf Meditationstechniken und Trance nicht ganz falsch. Der Feuerläufer muß sich nämlich konzentrieren und seine Angst ablegen, nur dann kann er sich zügig und ohne Stocken bewegen - bei jedem Zögern würde er sich unweigerlich verbrennen. Die Autosuggestion „ich gehe über kühles Moos" oder ähnlich hilft dabei außerordentlich. Sie hilft auch noch in anderer Hinsicht: Wer nämlich erwartet, er würde sich verbrennen, fühlt sich auch bei mäßiger Hitze verbrannt. Tatsächlich kann die überzeugende Suggestion, man hielte ein glühendes Stück Kohle in der Hand, sogar dazu führen, daß man echte Brandblasen entwickelt - obwohl die Hand leer war. Bis zu einem gewissen Grad läßt sich der Effekt auch umkehren. Man kann - sofern man geübt ist - unbeschadet Würstchen mit bloßen Fingern aus dem kochenden Wassern holen. Es ist jedoch auch geübten Yoga-Anhängern nicht zu empfehlen, Pommes Frites mit bloßen Händen aus dem siedenden Öl fischen zu wollen ...

Im Nachhinein wundert es einen schon, daß der Feuerlauf so lange als „Wunder" galt. Er wurde seit jeher und wird auch heute noch in den verschiedensten Regionen der Welt in rituellem Zusammenhang praktiziert, z. B. bei Oster- oder Sonnenwendfeuern - oft ganz unprätentiös und ohne jeden Hokuspokus. Da der Gang über glühende Kohlen eine außerordentliche Mutprobe ist und außerdem geistige Vorbereitung erfordert, eignet er sich außerordentlich gut als Initiationsritus. Seit einigen Jahren erfreut das Feuerlaufen sich in der esoterischen Szene als Gelegenheit zur Selbsterfahrung und bewußtseinserweiternde Mutprobe großer Beliebtheit, 
2. Bühnenreife Tricks

Einige Fakire beherrschen ausgefeilten Tricks, die denen der Bühnenzauberer entsprechen. Allerdings trauen viele Zuschauer den „einfachen Eingeborenen" Shows á la David Copperfield nicht zu - und glauben lieber an übernatürliche Kräfte.

Der indische Seiltrick
Ein Festtag in einem kleinen Dorf in Zentralindien. Es ist Abend, die tiefen Schluchten um das Dorf bilden in der Dämmerung eine beeindruckende Kulisse. Rituelle Tänze, die farbenfrohen Gewänder der Frauen, der Zauber der Ortes schaffen eine besondere Atmosphäre. Die Zuschauer bilden einen Kreis um den Fakir. Ein großes Feuer wurde entfacht, Kräuter werden in die Flammen geworfen und verströmen einen berauschenden Duft, der sich mit dem Qualm der lodernden Fackeln mischt.

Der Fakir bittet um Ruhe. Er zeigt ein langes weißes Seil herum, an dessen einem Ende eine große Holzkugel befestigt ist. Er wirft das Seil hoch, aber es fällt herunter. Nach drei weiteren vergeblichen Versuchen spricht er ein paar Zauberformeln - und das Seil steigt mit der Holzkugel voran senkrecht in die Höhe und verschwindet ober im Rauch des Feuers. Kerzengerade wie eine Stange schwankt das Seil im Abendwind. Der Fakir wendet sich einen kleinen Jungen zu und befielt ihm, das Seil hinaufzuklettern. Der Junge schüttelt ängstlich den Kopf, fuchtelt abwehrend mit den Händen und will sich aus dem Staub machen. Doch die drei Gehilfen des Fakirs sind schneller. Wortlos ergreifen sie ihn, heben ihn hoch und drücken ihm das Seil in die Hände. Der Kleine gibt auf. Stück für Stück zieht er sich höher. Bald klingt seine Stimme wie aus weiter Ferne, und der Rauch hüllt ihm ein.

Nach einem Augenblick ruft der Fakir dem Jungen zu, er solle wieder herunterkommen. Keine Antwort. Wütend schiebt sich der Fakir einen Dolch zwischen die Zähne und klettert dem Jungen nach. Die Zuschauer blicken angestrengt nach oben, aber der Rauch nimmt ihnen die Sicht. Plötzlich sind Geräusche wie von einem Kampf zu hören und Schreie, dann ist es wieder still. Etwas plumpst auf den Boden, einige Zuschauer springen auf, um nachzusehen, was es ist. Entsetzt weichen sie zurück, als sie erkennen, daß es blutige Fleischfetzen sind. Weiter folgen, an einigen hängen Stoffreste von der Kleidung des Kindes, und zum Schluß rollt ein Schädel, an dem noch Haare kleben, vor die Füße der Zuschauer. Starr vor Schrecken stehen die Dorfbewohner um das Seil herum.

Der Fakir läßt sich am Seil herunter. Seine Gehilfen sammeln flink die Überreste des Jungen ein und legen alles auf einen Haufen. Der Fakir spricht ein paar Zauberformeln, und plötzlich verwandelt sich die unförmige Masse blutiges Fleisches in den Jungen. Er ist quicklebendig, lächelnd steht er auf. Im gleichen Moment fällt das Seil herunter.

Nur wenige Indienreisende haben den Trick in dieser überlieferten Form je gesehen. So kann er nämlich nur an ganz bestimmten Orten vorgeführt werden - wobei landschaftliche Besonderheiten eine entscheidende Rolle spielen.

In diesem Falle liegt das Dorf nämlich in einer Felsenschlucht und ganz oben zwischen den Steilhängen hat man ein dünnes, aber festes Drahtseil gespannt, das in der Dämmerung und in dieser Höhe nur sehr schwer auszumachen ist. An der Seite des Fakirs hängt eine dünne Schnur herunter, die über das Drahtseil geführt wurde. Die Holzkugel am Ende des Seils ist mit kleinen Löchern versehen. Während der Fakir seine Zauberformeln sprach und ein paar magische Gesten vollführte, hakte er die Schnur in der Holzkugel ein.

Der Fakir hatte sein Publikum dergestalt um sich geschart, daß ein großer Felsbrocken ihm die Sicht auf das Kabel und die Schnur nahm. Auf ein Zeichen des Fakirs zog ein Gehilfe, der sich oben über er Schlucht versteckt hielt, die an der Holzkugel befestigte Schnur nach oben. Und das Seil stiegt senkrecht etwa fünfzehn Meter in die Höhe. Der mittels getrockneter Pflanzen erzeugte Rauch bildete eine Wand, die sowohl das Drahtseil als auch den Jungen, natürlich einem Komplizen, vor den Blicken des Publikums verbarg, als er, oben angelangt, die Holzkugel am Drahtseil festmachte.

Der Fakir kletterte dem Jungen nach; die beiden täuschten lautstark einen Kampf vor. Dann verstummten sie, und der Fakir warf Fleischstücke und Stoffetzen hinunter. Während die vermeintlichen Überreste des Jungen eingesammelt wurden und der Fakir sich am Seil herunterließ, rannte der kleine Komplize den Hang hinab und näherte sich von der Rückseite. Er schlüpfte unter die Gewänder der Gehilfen. Sie kauerten sich hin, um die Fleischfetzen in eigens dafür vorgesehenen Taschen in ihrer Kleidung zu verstecken, und der Junge kroch hervor und preßte sich im Schatten der drei Männer auf den Boden. Nun traten die Assistenten zurück, der Fakir sprach die magischen Worte, die den Jungen zum Leben erweckten, und der Komplize oben auf dem Felsen sorgte dafür, daß das Seil im gleichen Augenblick herunterfiel.

Nur selten ist die Darstellung so perfekt, sie hängt stark vom Können des Fakirtruppe und dem Gelände ab. Es gibt auch Variationen des Tricks - einige bedienen sich zum Beispiel eines großen Korbes für die „Umwandlung" der Fleischstücke in das lebende Kind; häufig wird auch ein Zwillingspärchen eingesetzt.

Levitation
Häufiger als der klassische Seiltrick wird in Indien die Levitation oder der Schwebetrick vorgeführt.

Der Fakir, in einem malerischen Gewand und mit schwarzem Turban, öffnet eine Truhe, aus der er ein kleines hölzernes Podest hervorholt, das höchstens dreißig Zentimeter hoch ist. Als nächstes zieht er ein etwa ein Meter langes dünnes Bambusrohr aus der Truhe, das er senkrecht in ein dafür vorgesehenes Loch im Podest steckt. Der Fakir hockt sich im Lotussitz auf den Boden. Er schließt die Augen. Schon nach kurzer Zeit hat er sich anscheinend in tiefe Trance versetzt. Nun heben ihn zwei Assistenten etwa einen Meter empor. Vorsichtig setzen sie ihn dergestalt ab, daß die nur die Spitze des Ellenbogens auf der dünnen Bambusstange ruht. Die Assistenten treten beiseite. Der Fakir schlägt die Augen auf. Er schwebt sitzend in der Luft, nur von der wackligen Bambusstange, die an sich zu dünn ist, um das Gewicht eines Mannes zu tragen, an der Ellenbogenspitze gehalten.

Das Wunder wird verständlich, wenn man weiß, daß der Fakir unter seinem Überwurf eine Art Metallkorsettt mit einer Sitzfläche umgeschnallt trägt. In seinem rechten Ärmel steckt eine Gelenkstange. Das „Bambusrohr" ist in Wirklichkeit ein geschickt bemaltes, seht stabiles Stahlrohr. Die beiden Assistenten hoben den Fakir hoch und steckten dabei die Gelenkstange im Ärmel in ein Loch des vorgeblichen Bambusrohrs. Das kleine Podest ist nur von außen aus Holz, innen hat es eine Eisenfüllung und gibt der scheinbar wackligen „Schwebekontruktion" einen soliden Halt.

Dieser Trick ist so effektvoll, daß sogar David Copperfield ihn in sein Programm aufnahm.

Die spontane Keimung
Der südindische Sektenführer Sathya Sai Baba ist auch als der „Wunderguru" bekannt. Seine Spezialität besteht darin, scheinbar aus dem Nichts Gegenstände zu materialisieren. Dies gilt seinen Anhängern als der sichtbare Beweis, daß Sai Baba wirklich die Inkarnation eines Gottes ist. Er greift mit scheinbar leeren Händen in die Luft zaubert Ringe, Blumen, Süßigkeiten, kleine Bilder und vor allem heilige Asche hervor. Vor allem seine Anhänger aus den USA und Europa sind verblüfft, wenn er zum Beispiel die spontane Keimung eine Pflanze bewirkt.
Der „Wunderguru" präsentiert seinem gläubigen Publikum einen mit Erde gefüllten Topf, den er auf einen Schemel stellt. Dann nimmt er ein Samenkorn und drückt es feierlich in die Erde. Nun bereitet er ein Tuch über den Topf und murmelt ein Gebet. Als er das Tuch zurückzieht, ragt ein dünner Stengel, an dem sich sogar zwei oder drei Blättchen befinden, einige Zentimeter aus der Erde. Nachdem er das Tuch ein weiteres Mal über den Topf geworfen hat, ist aus dem Stengel ein richtiges Bäumchen geworden.
Dieser Trick gehört zum Standardrepertoire der meisten indischen Gaukler. Bei dem Bäumchen handelt es sich lediglich um den Zweig eines Mangobaumes, den der Guru, vom Tuch verdeckt, aus seinem Gürtel gezogen und in die Erde gesteckt hat. Wird dieser klassische Taschenspielertrick gut vorgeführt, ist die Illusion perfekt.
Neben solchen einfachen Tricks soll Sai Baba allerdings tatsächlich über ungewöhnliche spirituelle Fähigkeiten verfügen: Telepathie, Hellsehen, Psychokinese, Krankenheilung bis hin zur Totenerweckung. Alles Trick? Sogar überzeugte Anhänger Sai Babas haben bei seinen Vorführungen Manipulationen beobachtet. Trotzdem: Selbst unvoreingenommene und kritische Zeugen kommen nicht umhin, einen unerklärlichen Rest gelten zu lassen. Ähnlich wie der russische „Wundermönch" Rasputin scheint Sai Baba tatsächlich einige außergewöhnliche Fähigkeiten zu haben (z. B. eine ungewöhnliche Suggestionsgabe), die er publikumswirksam mit Zaubertricks „verstärkt".
3. Die hohe Schule der Körperkontrolle
Sind Fakire also „nur" geschickte Artisten und Zauberkünstler? Sicher nicht, denn in der Regel sind diese „heiligen Gaukler" auch geübte Yogis . Vor allem in den Disziplinen des Raja-Yoga (Konzentration und Meditation), Kundalini-Yoga (Erweckung der psychischen Energie) und Hatha-Yoga (Beherrschung des Körpers) sind sie in einer Weise geübt, die ein europäischer „Feierabendyogi" kaum nachvollziehen kann.

Fakire verfügen über außergewöhnliche Körperkontrolle, so daß sie z. B. Selbstverstümmelungen ohne Schmerzen ertragen können. So könne sie ihre Unterarme mit scharfen Messer durchstechen oder einen Karren an etwa zehn dünnen Schnüren ziehen, die mit dünnen Häkchen im bloßen Oberkörper befestigt sind. Einige Fakire können sich spontan in so tiefe Trance versetzen, daß ihre Atmung und ihr Pulsschlag so weit reduziert ist, daß damit nicht vertraute Beobachter sie ohne weiteres für tot halten.

Selbst einige die in diesen Breiten eher alltägliche Handlungen sind bei näheren Hinsehen erstaunlich: Fakire verharren oft den ganzen Tag lang mit „verknoteten" Beinen im Lotussitz. Wenn es Zeit wird, die rituellen Waschungen vorzunehmen, stehen sie auf und gehen davon, ohne zu schwanken, ohne die geringste Anzeichen von Verkrampfung. Die Gelenkigkeit dieser Menschen ist im Grunde genommen beeindruckender als der spektakulärste Trick.

Die meisten spirituelle Lehrer sind allerdings der Ansicht, daß man außergewöhnliche Fähigkeiten nicht wie die Fakire als Ziel anstreben sollte, da dies nur das Ego des Übenden befriedigt und ihn von seinem eigentlichen Weg ablenkt. Viele hinduistische Yogis lehnen es ausdrücklich ab, ihre Fähigkeiten öffentlich vorzuführen, selbst wenn diese weitaus beeindruckender als die der „Jahrmarktsfakire" sind. Für einen ernsthaft buddhistisch denkenden Yogi wäre es sogar völlig undenkbar , sich als Fakir zu produzieren. Für weniger ernsthafte Yogaübende stellt sich die Frage, ob die Energie, die für das Erlernen derartiger Kunststücke aufgewendet werden muß, nicht sinnvoller eingesetzt werden könnte. Außer für Berufsgaukler lohnt es sich in der Regel nicht.
4. Das trübe Auge des Betrachters

Die Leistungen und Wunder der Fakire sind für die Einheimischen durchaus alltäglich. Besucher aus den europäischen Kulturkreis neigen dagegen leicht dazu, diese spirituellen Gaukler zu überschätzen - sowohl im Guten wie im Schlechten .

Die „Missionarssicht"
Für christliche Missionare, aber auch für Kolonialbeamte, zur kulturellen Arroganz neigende Reiseschriftsteller und sogar für einige Wissenschaftler (und leider auch bestimmte Entwicklungshelfer) ist die Sache klar: Fakire sind nichts anderes als schäbige Betrüger, die den Aberglauben der naiven Einheimischen ausnutzen.

Diese Ansicht entspricht der überheblichen Meinung, die europäische Zivilisation (oder der christliche Glaube, oder die modernen Wissenschaft) sei der indischen Tradition überlegen. Heute wird sie nicht mehr so offen vorgetragen wie in den Tagen von „Britisch-Indien", aber ausgestorben ist sie nicht.

Die eine große Gruppe, die gegen Fakire eifert, sind die selbsterklärten Aufklärer und Skeptiker , darunter oft sich betont „modern" gebende Inder. Ihr Bestreben ist es, PSI-Phänomene, „Gurukräfte" und ähnliches nach Möglichkeit als simplen Betrug wegzuerklären, weil sie nicht in das von ihnen für modern gehaltene streng materialistische Weltbild zu passen scheinen. Die an der Grenze zwischen Taschenspielern und Wandermönchen angesiedelten Fakire kommen ihnen dabei sehr gelegen, um auch ernsthaftere Formen des „indischen Mystizismus" zu diskreditieren.

Die andere Gruppe der Fakir-Hasser stammt aus dem religiösen Lager . Für viele Moslems ist das „Fakir-Unwesen" ein Beweis für die grundsätzliche religiöse Unreife der Hindus.
Einige fanatische Moslems aus dem fundamentalistischen Lager halten dagegen die „Wunder" für echt - aber mit grausamen Konsequenzen : Wunder können in ihrer Weltsicht nur von Gott oder dem Satan bewirkt werden. Die Fakire glauben nicht an den einzigen Gott Allah, also sind sie mit dem Teufel im Bunde. Entsprechend rücksichtslos gehen diese Leute dann bei religiös motivierten Unruhen gegen alle jene vor, die sie für Fakire, Yogis, Hindu-Bettelmönche, traditionelle Heiler usw. halten.

Ähnlich denken auch christliche Fundamentalisten , gewissermaßen in der Tradition der Hexenverfolgung. Wer „Wunder" wirkt, ohne dazu vom Papst (katholische Version) oder durch die jeweils bevorzugte „authentische" Bibelauslegung (evangelisch-fundamentalistische Version) autorisiert zu sein, ist des Teufelspakts verdächtig. Das Wirken dieser „Hexenjäger" beschränkt sich nicht auf Indien - es gibt in der Schweiz evangelische Fundamentalisten, die sogar prominente Bühnenzauberer verdächtigen, sich „echter" Magie zu bedienen - also mit den „dunklen Mächten" im Bunde zu sein.

Anderen Kirchenvertretern geht es schlicht darum, die „Konkurrenz" zu bekämpfen. Die meisten katholischen Geistlichen gehen - Ökumene hin, Dialog der Religionen her - nach wie vor davon aus, daß die Dogmen der römischen Kirche sozusagen Naturgesetze sind. Wer nicht an sie glaubt, der irrt eben - oder er lügt!
Fakire und Wundergurus können demgemäß also nur Schwindler sein.

Protestantische Christen geben sich zwar gerne toleranter, stören sich jedoch an der völlig anderen Religionsauffassung der hinduistischen Volksfrömmigkeit. Das traditionelle evangelische Christentum ist eine schlichte und sehr abstrakte Religion; die für Indien typische Verbindung zwischen irdischen Vergnügungen, Ekstase, „Wundern" und religiösem Ritus ist strengen Protestanten völlig fremd. 
Indirekt profitieren die „östlichen" Religionen auch bei uns von den zu reinen Amtshandlungen reduzierten Ritualen und der abstrakten, nüchternen, auf jeden Wunderglauben verzichtende Religionsauffassung der evangelischen Amtskirche. Nicht nur in Indien ziehen viele ernsthaft religiöse Menschen ekstatische und ausgelassen Kultformen der oft bedrückenden „moralinsaueren"  Stimmung des „traditionellen" evangelischen Gottesdienstes vor.

„Ich will daran glauben"
Die andere große Gruppe der Fremden mit getrübtem Blick sind die „Heilsuchern". Selbst wer nicht auf der Suche nach Erleuchtung nach Indien pilgert, sucht oft nach den spirituellen Wundern eine uralten Kultur. Dieses Wunschdenken ist oft so stark, daß den Möchtegern-Esoterikern aus Europa oder Nordamerika jede Kritikfähigkeit abhanden kommt. Ein klassisches Beispiel dafür ist die Wirkung, die „Wundergurus" wie der schon erwähnte Sai Baba auf „Abendländer" haben.

Andererseits wäre es zu einfach, Gurus wie Sai Baba als reine Scharlatane abzutun. Ihr Wirken hat ohne Zweifel eine religiöse Dimension. Inder gehen mit den von Sai Baba und ähnlichen Gurus produzierten Wundern unbefangen um, weil sie in einer religiösen Atmosphäre aufwachsen, in der Heilige und Wundertäter quasi zum Alltag gehören. Für westliche Besucher, die wegen spiritueller Bedürfnisse in Sai Babas Ashram kommen, bedeutet das aber oft ein aufwühlendes Erlebnis. Viele kommen mit der Hoffnung, daß ihnen neue geistige Welten eröffnet werden. Wenn sie dann eine Materialisation oder Krankenheilung miterleben, ist es nur ein kleiner Schritt, den Aussage Sai Babas über sich selbst zu glauben, um so eher, als sie seine Machtdemonstrationen nicht in den religionsgeschichtlichen Rahmen einzuordnen wissen. Gurus, die wie Sai Baba ihre spirituellen Fähigkeiten zur Schau stellen, sind in Indien nicht mehr als Fakire, keineswegs sieht man sie dort deshalb automatisch als Erleuchtete an.
Anders ausgedrückt: Was für einen Einheimischen ein mehr oder weniger gut vorgeführtes Kunststück oder eine bloße Zuschaustellung „spirituellen Handwerks" ist, ist für die Heilssucher gleich ein „Erleuchtungserlebnis". Entsprechend stilisieren sie simple Gaukler zu echten Heiligen hinauf - und verstellen sich durch den selbstverschuldeten Aberglauben damit den Blick auf echte spirituelle Erfahrungen.

Martin Marheinecke, Dezember 1998